Wortgeschichten

Wer hat Kinder und Moral unter Kontrolle?

Illustration: Tizian Merletti

Vorausgesetzt, Sie haben kleine Kinder und möchten wieder einmal einen Abend ohne Tränen und herumfliegende Esswaren verbringen: Was tun Sie dann mit den Kindern? Ab zu den Grosseltern oder eine Babysitterin, einen Babysitter organisieren?

Deren Name ist natürlich englisch und aus baby «Säugling» und sitter «wer etwas bewacht» zusammengesetzt. Belegt ist schon 1561 der sitter-by, jemand, der (tatsächlich und vor allem bildlich) neben jemandem sitzt und die Aufsicht hat (in diesem Fall, der Übersetzung eines Texts von Jean Calvin durch Thomas Norton, ein Stellvertreter für minderjährige Regenten). In der Form babysitter ist das Wort viel jünger, der älteste Eintrag im Oxford English Dictionary stammt von 1937. Kurz darauf taucht es auch schon in der Deutschschweiz auf: In der «Tat» vom 29. August 1948 wird der noch nicht allgemein bekannte Babysitter in der Kritik eines amerikanischen Films mit «Kinderhüter» übersetzt. Die Anglizismensammlung des früheren Idiotikonredaktors Peter Dalcher bringt ein paar wenige Hinweise auf das Wort aus den 1950er-Jahren, das Schweizer Textkorpus und das Schweizerdeutsche Mundartkorpus (zwei Textsammlungen aus der Schweiz, einmal mit Fokus auf die Standardsprache der Deutschschweiz, einmal auf Mundarttexte) kennen es seit den 1960er-Jahren.

Wie sagte man dann aber, wenn man seine Kinder vor der Mitte des 20. Jahrhunderts einmal in fremde Obhut gab? Die Obhut birgt einen Hinweis: Hüete nennt man die Tätigkeit des Kinderbeaufsichtigens vor allem am Nordrand der Schweiz vom Bieler- bis zum Bodensee. Der Sprachatlas der deutschen Schweiz bringt daneben in Band V, Karte 8 eine ganze Reihe gleichbedeutender Wörter wie em Chind luege, seltener auch em Chind gugge, dum Mämmi lotze, gschweige und bsorge. Am weitesten verbreitet, nämlich fast im gesamten Alpen- und Voralpenraum und bis ins Mittelland, ist oder war allerdings die Bezeichnung ds Chind gaume (goume, goome), älter auch em Chind gaume. Das Wort ist schon in alt- und mittelhochdeutscher Zeit als goumen «erfrischen, eine Mahlzeit halten; achtgeben, Aufsicht haben, Wache halten» belegt und hat daher im Klettgau die auffällige Zusatzbedeutung «sich hungrig hinstellen und ohne Worte betteln» angenommen. Die Grundbedeutung könnte laut Schweizerischem Idiotikon «mit geöffnetem Munde spähen» sein, sei es nach schutzbedürftigen Personen (oder Tieren, Häusern und sogar Trauben) oder nach Essbarem; neuere etymologische Wörterbücher setzen eine neutralere Ursprungsbedeutung «wahrnehmen, Rücksicht nehmen» an.

Was es anders als diese Bezeichnungen für die Tätigkeit des Babysittens kaum gibt, sind direkte Entsprechungen zu Babysitter: Niemand engagiert Chinderhüeter oder auch einfach Hüeter, um ein paar Stunden Ruhe zu haben. Einzig den Gaumer und die Gaumerin gibt es. Diese hüten zwar auch Kinder, in früheren Jahrhunderten wurden darunter aber insbesondere Sitten- und Polizeiaufseher der Gemeinden sowie Gefängniswärter verstanden. Die Ehegäumer im Obersimmental wurden zum Beispiel 1700 eidlich verpflichtet, auf «Laster, Üppigkeit, Hurey, Ehebruch, zu viel Übertrinken, Schweeren, Spiehlen, Gottslästeren […] und alles anders, so zu Nachteil aller christlichen Zucht und Ehrbarkeit vorgehen möchte, sonderlich zu achten».

Dass es kein Wort Gaumer(in) in der expliziten Bedeutung «Kinderhüter(in)» gibt, weist darauf hin, dass Kinderbetreuung die längste Zeit etwas war, das nebenher gemacht wurde, und nichts, das man als Beruf oder Amt verstanden hätte (ausser vielleicht in bessergestellten Haushalten, wo Gouvernanten die Kinderbetreuung gleich ganz übernahmen). Kinder gegen Geld hüten zu lassen, ist eine ebenso junge Erscheinung wie das Wort dafür – darum wurde auch das berndeutsche Wort Göimermeitschi, kaum entstanden, vom Babysitter bedrängt. Oder wie es der Kolumnist im «Bund» vom 24. Juli 1955 als Sprichwort beschreibt: D’ Liebi guhmt. – Für öppis rächt z’ hüete, bruucht’s Liebi. We Vater u Mueter amene Abe furt wei, so stelle si vilicht öpper a, u wär gäge Lohn di Chlyne goumet, heisst uf amerikanisch «baby sitter». Wer Kinder hütet, tut das aus Liebe. Wer dafür Geld nimmt, ist ein Babysitter.

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