Mira!
«Mira, chasch goh. Aber pass uf!», sagt der Vater zu seiner Tochter. Entweder heisst die Tochter Mira (mit langem, geschlossenem i ausgesprochen, in den letzten Jahren immer in der Top 100 der beliebtesten weiblichen Vornamen für Neugeborene), oder der Vater ist einverstanden, dass seine Tochter weg will. Im zweiten Fall ist mira nämlich kein Name, sondern ein Adverb, das auch mit kurzem Vokal ausgesprochen wird. Lautliche Varianten davon sind miera und miro.
Den Ausdruck mira kann man auf Hochdeutsch wiedergeben mit ‘meinetwegen, von mir aus’. Wichtig ist dabei vor allem, was mitschwingt: Oft ist dies eine gewisse Gleichgültigkeit, ein Nachgeben, es kann aber auch im Gegenteil ein gewisser Unwille oder eine gewisse Ungeduld sein, so beispielsweise, wenn der Berner Mundartautor Hans Künzi in E gfröti Sach (1990) schreibt: «Muderig het eis gmurmlet: ‹We ’s di dünkt, so mira, so mach halt.›» Der Nebensinn des Wortes ergibt sich, wie die Beispiele illustrieren, aus dem jeweiligen Kontext. Keinen grossen Unterschied macht es, ob dabei mira mit wohl ergänzt wird, was häufig der Fall ist, so auch beim Solothurner Schriftsteller Josef Reinhart in Heimelig Lüt (1905): «Aber die Fähnen und Flagge, mira wohl, hani dänkt.»
Der Ausdruck mira ist nichts anderes als die feste Verbindung von mir + an. Durchsichtiger ist eine solche Verbindung mit an noch bei der Formulierung allem aa ‘nach allem (zu schliessen)’ oder a dem aa ’dem nach (zu schliessen)‘. Bei diesem letzten Beispiel sieht man auch, woher dieses nachgestellte an eigentlich kommt: Es ist eine Wiederholung der Präposition, so auch erkennbar bei Formulierungen wie a de Wulchen aa (wird es bald regnen) oder am Niessen aa (hat es Pollen in der Luft). Die vorangestellte Präposition kann aber eben auch wegfallen, wie etwa bei mira.
Da in mira das Wort mir steckt, konnte der Ausdruck ursprünglich nur von jemandem gebraucht werden, der von sich in der Ich-Form sprach. Diese Beschränkung gilt allerdings heutzutage nicht mehr, denn mira hat sich verselbständigt und kann in der indirekten Rede unverändert verwendet werden: «Är seit, si chöni mira goh.» Noch etwas eigenständiger ist mira im folgenden Satz der bernischen Mundartautorin Frieda Wenger aus Halblynigs u Blaubödigs (1950), wo man bedeutungsgleich halt einsetzen kann: «Är söll wägen ihre mira afangen us em Finken use schlüüfen u der Strumpf abzieh.»
Laut dem Schweizerischen Idiotikon ist mira ein Ausdruck, der in der gesamten Deutschschweiz verwendet wird. Der entsprechende Eintrag steht allerdings im ersten Band, der bereits 1881 erschienen ist. Die Verbreitung sieht heute wohl etwas anders aus: Es ist davon auszugehen, dass das Wort – jedenfalls regional – abgeht. Hinweise darauf finden sich beispielsweise in neueren Regionalwörterbüchern, die das Wort zwar aufführen, aber Anmerkungen wie «veraltend» (Basel), «1960 noch verstanden» (Obwalden) dazusetzen.
Auch wenn mira teilweise nicht mehr in Gebrauch ist, so ist es doch eigentlich ganz praktisch, in einem Wort so vieles ausdrücken zu können. Deshalb sollte es auch nicht erstaunen, dass es bedeutungsgleiche Ausdrücke in allen schweizerdeutschen Dialekten gibt, so beispielsweise minetwäge (mineretwäge, missetwäge) und minethalb (misthalb). Diese beiden Wörter sind nach einem identischen Muster entstanden, nämlich aus der Verbindung von mīnen halben resp. von mīnen wegen ‘von meiner Seite aus’ (zu ahd. halba ‘Seite’ resp. ahd. weg ‘Weg, Seite’). Im Laufe der Zeit wurde bei dieser Verbindung die Präposition von weggelassen, die beiden verbleibenden Bestandteile sind zusammengerückt, und zusätzlich haben lautliche Anpassungen stattgefunden. Dieses Wortbildungsmuster lässt sich im Deutschen über einen längeren Zeitraum beobachten, und es zeigt sich im vorliegenden Fall, dass minethalb der ältere, minetwäge der jüngere Ausdruck ist. Nach demselben Muster gebildet ist hochdeutsch meinetwillen. Dieses Wort hat zwar dieselbe Bedeutung wie minetwäge und minethalb, existiert aber im Schweizerdeutschen nicht.
An Stelle von minetwäge kann man bedeutungsgleich auch wäge mine /mir sagen: «Minetwäge /wäge mir /wäge mine chasch mache, was wotsch.» Der Ausdruck wäge mine /mir widerspiegelt, dass sich wegen aus der bereits genannten Verbindung von … wegen zu einer komplett eigenständigen Präposition entwickelt hat.
Mira, minethalb, minetwäge, wäge mir – überall steckt mir /mine drin. Natürlich gibt es im Schweizerdeutschen auch noch weitere Ausdrücke, die den beschriebenen Sachverhalt fassen. Am kürzesten wohl: ok.
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