Rebbergarbeit im März: Spälte, Stäckespöö und Spööschifere
Der März ist die Zeit, in der in den Weinbergen traditionell die Stickel, Sticklig oder Räbstäcke geprüft und gegebenenfalls ersetzt werden: Die hölzernen Pfähle aus Holz der Familie der Kieferngewächse (Pinaceae), an denen die Reben festgebunden und dressiert (erzogen) werden.
Zum Überprüfen werden die Stecken aus dem Boden gezogen; mit einem Schlag wird festgestellt, ob die Spitze gefault ist (dann erzeugt der Schlag einen dumpfen Ton). In diesem Fall wird sie abgeschlagen und der Stecken erneut gespitzt. Dieser Vorgang wiederholt sich so viele Jahre, bis die Stangen zu kurz sind und ersetzt werden müssen. Den Kreislauf der Stickel beschrieb der Zeitungsredaktor Alfred Keller (1882–1962) aus Rüdlingen im Kanton Schaffhausen in einem Manuskript, das ins Material des Schweizerischen Idiotikons eingereiht ist und aus dem wir hier einen Auszug einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen:
«Bevor die Bauern Stäckeholz (Spälte) auf der Gant im Wald kauften – meist föörigs [aus der Unterfamilie Pinoideae] – gingen sie hin, sahen genau nach und probierten es wohl auch, ob das Holz gut spalte. War dies nachher nicht der Fall, so war man iegheit oder aagschmiert und es hiess, es sei z vil i d Spöö gfalle [es fielen also beim Herstellen der Stecken aus dem Holz zu viele Späne ab, es gab zu viel Verlust]. Jetzt machen die Bauern ihre Rebstecken nicht mehr selber, sondern sie lassen sie fräsen (meist nur noch aus tannenem Holz [aus der Unterfamilie Abietoideae]). Die neuen gefrästen Stecken halten aber nicht halb so lang wie früher die föhrenen und selbstgemachten. Einem chienige Stecken [wohl aus Holz der Waldkiefer, einer Art der Pinoideae] wurde gar ein ewiges Leben zugesprochen. Früher gab es auch eichene Rebstecken, doch sind sie jetzt ganz verschwunden.»
Wie wichtig die Holzwahl für die Stecken ist, betonen auch andere Quellen. Neben Föhren- gilt Lärchenholz (aus der Unterfamilie Laricoideae) als besonders beständig, beide sind aber auch teuer. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden daher in der östlichen Deutschschweiz fast ausschliesslich Tannenhölzer als Rebpfähle verwendet. Und sie wurden zunehmend nicht mehr selbst hergestellt: Die Weinbauern am Zürichsee wurden von Steckenmachern im Zürcher Oberland beliefert, und jene in der Bündner Herrschaft bezogen ihre Stickel von Herstellern in Vättis im Taminatal.
Weiter berichtet Keller über die Bearbeitung der Stecken: «In Rüdlingen unterscheidet man zwei oder drei Arten Stäckespöö. Die ersten zwei entstehen beim Machen der neuen Rebstecken, und zwar beim Spalten die grobe Spööschifere und beim Abziehen [Glätten] mit dem Schnidmesser und beim Spitzen die reine. Sie werden zum Anfeuern benutzt (i der Chust, im Ofe, besonders beim Backen und Weggle als Bläs [brennende Scheitchen, mit denen man beim Einschiessen des Brots den Backofen beleuchtet]) … Stäckespöö gibt es auch beim Stoosse, wenn die alten Rebstecken mit dem Gertel nachgespitzt oder neugespitzt werden. Diese [direkt im Weinberg anfallenden] Spöö und Spitz müssen sorgfältig aufgelesen und aus den Reben entfernt werden; man sagt, es gebe Uzifer, Wurmeusle [Ameisen] und Pilze, wenn man sie underehacki.»
Gewandelt haben im Lauf der Zeit nicht nur die Stecken, sondern auch die Art des Rebenaufbindens: Im Deutschwallis soll diese Art der Rebenzucht überhaupt erst im 20. Jahrhundert aufgekommen sein. Davor liess man die Reben unbehindert dem Boden entlang wachsen. Wo man aber Stickel kennt, standen diese ursprünglich unverbunden. Wenn man die Bänder, mit denen die Reben festgebunden waren, löste, konnte man die Stangen auch schon im Herbst herausheben und die Pflanzen ablegen und bedecken, um sie vor Frost zu schützen. Erst später wurden die Stickel mit Draht verbunden und die Reben daran aufgezogen. Wer heute durch Schweizer Rebberge geht, wird kaum noch eine hölzerne Stange finden; sie wurden durch robustere eiserne Einrichtungen ersetzt – gut, dass heute auch kaum noch jemand Stickelspäne zum Beleuchten des Backofens braucht. Nur vermeintliches Pech allerdings für die Rüdlinger Kinder. Ihnen versprach man nämlich früher, wenn sie fleissig das «Spöö- und Spitz-Ufläse» besorgten, «so dürften sie an den Eglisauer Chindlimärkt (erster April)» – heute können sie nicht mehr mit diesem Versprechen veräppelt werden. Ebenso verschwunden ist der Stickelmarkt in Bad Ragaz, wo die Vättner ihre Ware den Herrschäftler Bauern anboten: Er ist zum profanen Frühlingsmarkt geworden.
Der März ist daher nur noch bedingt der Monat, in dem die Rebstecken überprüft werden: Diese Arbeit ist schlicht nicht mehr jährlich nötig.
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