Wortgeschichten

Der stifelsinnige Bauer, die gibelifitzigen Kühe und die gätterliläufige Frau

Illustration: Tizian Merletti

«Nachts hat man auch keine Ruhe mehr. Die ganze Zeit drehst du dich von einer Seite auf die andere, seufzest und jammerst, dass man fast stiefelsinnig wird. Es ist kein Leben mehr in diesen Wänden», klagt der Protagonist in Walter Heinz Müllers Roman «Geld aus Amerika» (Berner Woche 1946, 313). Seiner Frau geht es freilich auch nicht besser: «Ich kann deinetwegen nicht schlafen, oder wenn es endlich ginge, weil du einen Moment ruhig lagst, fängst du aus dem Traum zu schreien an.» Wirklich zum stifelsinnig werden!

Mit Stiefeln hat der Ausdruck stifelsinnig nichts zu tun; er ist eine Abwandlung des ursprünglichen Worts stigel-, stigeli-, stigelesinnig. Dieses, noch weniger verständlich, wurde volksetymologisch an ein Wort angeglichen, das wenigstens für sich allein verständlich ist: Was ein Stifel ist, muss man nicht erklären. Ein Stigel oder eine Stigle dagegen ist eine Vorrichtung zum Übersteigen von Zäunen. Früher, als die Landschaft noch voller Zäune war, die Weiden, Gärten und Ackerland abtrennten, waren auch solche Stigle allgegenwärtig. Und damit nähern wir uns der Herkunft des Worts stigelsinnig. Die Zäune dienten nämlich in erster Linie dazu, das Vieh am Be- und Niedertreten von Kulturen zu hindern. Nun sind manche Nutztiere bekanntlich ziemlich neugierig und auch nicht blöd. Kein Wunder also, dass sie sich gern an diesen Übergängen aufhielten, sei es in Erwartung von Menschen, sei es in der Hoffnung, selbst auch einen Weg zum Übersteigen des Hindernisses zu finden – das Gras ist bekanntlich immer auf der andern Seite grüner. Stigelsinnig im Wortsinn wären also Tiere, die aufgeregt an so einem Übergang herumstehen. Allerdings tritt es nur übertragen auf Menschen auf, die «halb verrückt vor Lärm, Ärger, Ungeduld» sind, weshalb das Deutsche Sprichwörter-Lexikon (Karl Friedrich Wilhelm Wander, 1876, Band 4, 855) davon ausgeht, das Wort habe zuerst Reisende bezeichnet, die beim Übersteigen der vielen Leitern ermüdet und aufgehalten worden seien.

Neben stigel- und stifelsinnig gibt es auch noch die weniger bekannten gibelisinnig und gipfelsinnig, die beide «verrückt, rasend» bedeuten. Ersteres kommt vom Verb gible «ausser sich geraten, den Verstand verlieren, vor Angst, Sorge, Ungeduld vergehen», entstammt also dem gleichen Bedeutungsfeld, und steht neben gibelifitzig «neugierig» – Neugier und Ungeduld gehen eben gern Hand in Hand. Gipfelsinnig dagegen könnte eine Mischform von stifel- und gibelisinnig sein. Einen ähnlichen Ursprung und vergleichbare Bedeutung hat ausserdem das heute wenig gebräuchliche Wort gatter-, gätterliläufig, das wohl eigentlich Tiere bezeichnet, die am Gatter auf und ab laufen. Tatsächlich kommt auch dieses Wort nur in übertragener Bedeutung «wirr, unruhig, lebhaft, verrückt» vor, meistens in der verstärkenden Kombination stigelsinnig und gatterläufig (schon 1824 in Otto Sutermeisters Buch «Die Schweizerischen Sprichwörter der Gegenwart in ausgewählter Sammlung», 117).

Bruno Boesch vermutete in der Zeitschrift für schweizerische Geschichte 1946, 369, das Bild von stigelsinnig und gatterläufig komme ursprünglich von der «mannstollen Frau … die sich am Zaun sehen» lasse; darauf gibt es aber keinen Hinweis. Stattdessen wird in den Schaffhauser Beiträgen zur vaterländischen Geschichte 1959, 158 die Bemerkung eines Pfarrers von 1841 zitiert, es sei «in religiöser Hinsicht die gerühmte Merishauser Tiefsinnigkeit oft mehr eine Stiefelsinnigkeit». Und als Gritli die Lismete hervorholen will, sagt ihre Freundin Rösi in der Berner Woche 1933, 735 zu ihr: Alles andere ehnder als Socke lisme, bi däm cha eis ja stiefelsinnig wärde. In einem Kasperlitheater im Pestalozzi-Kalender 1946, 15 versucht Chaschperli, einen Fisch zu angeln: Das isch ja zum stigelisinnig wärde. I wott doch nid bis z’ Nacht am zwölfi da sitze. Vom Lärm moderner Baumaschinen, der die Umgebung eines Bauplatzes stiefelsinnig mache, ist im Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 1956, 974 die Rede. Ebenda kritisiert eine Interpellantin 1982, 308 die Haftbedingungen im Gefängnis mit den Worten: «Versuchen Sie, ein paar Tage lang so zu leben; Sie würden zum mindesten stiefelsinnig.» Auch ohne mannstolle Frauen lauter Umstände, die einen zur Verzweiflung treiben. So wie Peter, der in einer Adaptation von Jeremias Gotthelfs «Käserei in der Vehfreude» (Josef Berger in Schwyzerlüt 1949, Heft 7–10, 43) Sepp beneidet: We-n-i ghöre, wi myner Chüe im Stall inne wüescht tüe, u we-n-i dänke, wi me vo dyne nume gar nüt merkt – so still hei si sech – so chönnt me gwüss albe-n-einisch fascht stifusinnig wärde. Wohl wahr; vielleicht hätte es geholfen, die Kühe aus ihrer eigenen Stiegelsinnigkeit zu befreien? Sepp jedenfalls hat ein Mittel: We halt vo myne eini wott afah muggle, so schoppe-n-i re toll Heu i Baare – u de bruucht si ds Muul für z’ frässe u het de albe ke Zyt meh für z’ brüele.

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Von schwangeren Katzen und «grossen» Frauen
heimlifeiss

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