Wortgeschichten

De Türgg

Illustration: Tizian Merletti

«Vernünftig, sittsam und bescheiden» nennt der Zürcher Pfarrer Johann Jakob Redinger (1619–1688) in seinem Bericht die Türken, die er 1664 auf seiner Reise im Heerlager in Neuhäusel (heutige Slowakei) antrifft. Sein Ziel ist es, den Grosswesir von der nahenden Endzeit in Kenntnis zu setzen und die Türken zum Christentum zu bekehren. Die Türken standen damals im Kriegszustand an der österreichischen Grenze, nicht zum ersten Mal: Ab Mitte des 14. Jahrhunderts begannen die Osmanen nach Europa vorzudringen, 1529 belagerten sie Wien ein erstes Mal. Korrekterweise spricht man im Zusammenhang mit dieser kriegerischen Expansion von den Osmanen und nicht von den Türken, denn nicht alle osmanischen Muslime der damaligen Zeit waren Türken, d. h. türkisch sprechend. Die Bezeichnung Türke hatte sich aber schon damals im Deutschen für diesen militärischen Feind des christlichen Abendlands festgesetzt und wurde bald gleichbedeutend verwendet wie Heide ‘Nichtchrist, Ungläubiger’. Redinger attestiert den Türken in seinem Reisebericht u. a. Gottesfurcht, Nächstenliebe, Enthaltsamkeit, Stille und Sanftmut. Er bilanziert: «Ich sahe nichts in dem Läger, das mir mißfallen hätte, als daß die Türken auch sehr Tabak raucheten.»

Der Vergleich rauche wi-ne Türgg hat zusammen mit anderen Wendungen und Zusammensetzungen Eingang in unseren Wortschatz gefunden. Diese beziehen sich vielfach auf Eigenschaften der Türken – oder auf Eigenschaften und Verhaltensweisen, die man den Türken zuschrieb. Dabei zeigt sich, dass das positive Bild, das Redinger zeichnete, eher singulär ist. Es dominieren Verwendungsweisen und Bedeutungen, die auf Negatives, auf Kriegerisches, auf Brutales Bezug nehmen. Zu sehr schockierten diese Muslime, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit in ganz Europa das Christentum bedrohten. Zudem ging es natürlich auch um ein bewusstes Abwerten des Feindes.

Im Schweizerdeutschen ist jemand iifersüchtig wie ne Türgg, fluecht und raucht wie ne Türgg oder macht Auge wie ne früschgchläpfte Türgg. Herrscht ein Chaos, geit s zue wie bi de Türgge. Immerhin, etwas Positives findet sich auch im Schweizerischen Idiotikon: Die Tonners Buebe! Schlau wie Türgge!, so bewundert Sämi in Hans Ueli Bärs Stück Gsüchti (1924) seine Söhne. Negative Bedeutungen hat der Türgg dann aber wieder in der Zusammensetzung wie Hustürgg ‘Haustyrann’, Chümitürgg, Mütschlitürgg ‘geistig beschränkter Mensch’ oder Buuchtürgg, ein nicht näher spezifiziertes Scheltwort. Als Kraftwort wird Türgg in bernischen Ausrufen verwendet: Potz Mooren und Türgge! oder Stäcketööritürgg!

Eine lange Tradition hat Türgg als Hundename: Im Zürcher Glückshafenrodel von 1504 – ein Glückshafen ist eine Lotterie – liessen die Besucherinnen und Besucher des Freischiessens nicht nur sich, sondern auch Haustiere registrieren, um die Gewinnchancen zu erhöhen: Unter den Registrierten finden sich Ibachs Türgg vonn Bern und Jacob Thallers Türgk von Rottwil. Sich die beiden Hunde als Chihuahuas vorzustellen, wäre verkehrt. Wohl eher handelte es sich um zwei bissige Hof- und Wachhunde. Wer im 16./17. Jahrhundert seinen Hund Türgg nannte, nannte das Tier nicht nur wegen dessen Eigenschaften so, sondern machte sich damit sicher auch lustig über den türkischen Sultan, der als türggische Hund beschimpft wurde. Selbsterklärend, dass damals natürlich ebenfalls Sultan ein beliebter Hundename war.

Nicht unbedingt die Bissigkeit, aber wohl eine gewisse Grobheit und Unbändigkeit haben den Ausschlag gegeben, dass die Einwohnerschaft im aargauischen Ennetbaden und Unterehrendingen Türgge genannt werden. Den gleichen Spitznamen haben Nachbarn den zürcherischen Dachsnern sowie den Bewohnern von Lustdorf im Thurgau gegeben.

Der Türgg oder der Türgge bezeichnet traditionell in der Ostschweiz den Mais, dies vor allem in den Kantonen Graubünden, Glarus, St. Gallen und Appenzell. Teilweise wird die ganze Maispflanze so genannt, teilweise das Maismehl, teilweise die daraus gefertigte Maisspeise, vorwiegend ein Maismehlbrei. Solcher Maismehlbrei wurde früher in der südlichen und östlichen Schweiz zum Frühstück gegessen (Türggemues, Polenta), ebenso der (Türgge)Ribel, eine Speise aus angebrühtem Mais, der mit viel Fett körnig geröstet wird. Den Namen Türgg erhält der Mais von ital. grano-turco ‘türkisches Korn’. Dem Mais wurde fälschlicherweise eine Herkunft aus dem Orient zugeschrieben. Tatsache ist aber, dass er Anfang des 16. Jahrhunderts aus Mexiko nach Mitteleuropa gelangte.

Während alle bisherigen Bedeutungen und Verwendungsweisen irgendwie miteinander zu tun haben, kann ein weiterer Bedeutungskomplex nicht sicher daran angeknüpft werden, nämlich der Türgg, der aus der deutschen Soldatensprache ins Schweizerdeutsche gelangt ist und seit 1914/8 belegt ist. Dies hat den zuständigen Redaktor des Schweizerischen Idiotikons veranlasst, im Wörterbuch einen eigenen, zweiten Ansatz zu erstellen. Türgg bezeichnet in diesem Sinn eine militärische Gefechtsübung, einen langen Marsch und dann nicht militärisch einen (listigen) Streich, ein Vorhaben – Letzteres kann misslingen, was in der Redensart Der Türgg isch verreckt zum Ausdruck kommt. Auch ein mühsames, anstrengendes Unternehmen ist ein Türgg. Dazu passt der Familietürgg, der ebenfalls zu diesem Ansatz gestellt wird und eher abschätzig für ein Familientreffen steht.

Das Idiotikon führt zusätzlich das Verb türgge ‘eine (grössere) Gefechtsübung durchführen’ an. Im heutigen Sprachgebrauch meint türgge auch ‘fingieren, fälschen’. Dabei handelt es sich wohl um eine Bedeutungsentwicklung, die von dem bereits erwähnten militärischen Kontext ausgeht, denn die Gefechtsübungen waren ja bloss Übungen gegen einen angenommenen Feind – und wurden teilweise parademässig bei militärischen Besichtigungen vorexerziert. Dass türgge in der Bedeutung ‘fingieren, fälschen’ nicht unbedingt etwas mit dem Türken, also dem Türkisch sprechenden Menschen zu tun hat, ist den Benutzerinnen und Benutzern kaum bewusst. Sie stellen wohl automatisch diese Verbindung her – und dadurch scheint der Türgg auch in der heutigen Zeit seine negative Zuschreibung nicht zu verlieren. Dabei hat doch schon vor über 350 Jahren der Gelehrte Johann Jakob Redinger aufgezeigt, welche positiven Zuschreibungen zu schätzen sind.

 

Permalink: https://www.idiotikon.ch/wortgeschichten/tuergg

Graubünden, Churwalchen, Dreibünden oder Rätien?
Die cheibe Brääme

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